Wortvielfalt

Autorenleben

»Du bist der erste Mann, dem ich begegne, dem so viele Wörter zur Verfügung stehen.«
Es war Mittwoch, und der Tag sollte zum heißesten des Jahres werden. Es hatte seit Wochen nicht geregnet, der Asphalt auf den Straßen schimmerte im unbarmherzigen Sonnenlicht, und alle, die nicht das Glück hatten in der Nähe eines kühlenden Gewässers zu wohnen, stöhnten und wischten sich im Minutentakt den Schweiß von der Stirn.
Meine Kollegin, eine Frau jenseits ihrer besten Jahre, ließ mich die Stirn runzeln. Anerkennend und vor Erfahrung strotzend lächelte sie. Vermutlich wollte sie mir ein Kompliment machen, aber alles, worüber ich nachdenken konnte, war, welche Sorten Mann in ihrem Leben bisher eine Rolle gespielt haben mochten. Ich stellte mir einen stark behaarten und maskulinen Mann vor, der, auf dem Sofa sitzend, grunzend seine Bedürfnisse kundtat.

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Kontemplation

Autorenleben

Durchatmen. Ich habe vor kurzem den Song »Regen« von Enno Bunger zufällig in einer Playlist gefunden. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich U-Bahn-Schienen, auf denen sich die aufgehende Sonne im Regen der letzten Nacht spiegelt und die sich in den Häuserschluchten der Stadt verlieren.
Manchmal, auf einer Wiese sitzend, streichele ich mit den Händen nasses Gras. Der Wind bläst mir Nieseltropfen ins Gesicht. Alles verschwindet, tropft von der Nase, und ich finde mich im Angesicht eines Orkans von Glen Hansard wieder, der am Horizont atemraubend, mächtig, überwältigend, alles mit sich reißend auf mich zukommt. Mich fragend, was geschieht, wenn der Orkan mich erfasst, wirbele ich auch schon willenlos und ohne Aussicht auf Gegenwehr umgeben von Leben durch die Luft, werde absorbiert von allem, was geschah und geschehen wird.
Im Auge des Orkans auf die Erde gespuckt, von Stille aufgesogen, bleibt nur wenig Zeit sich den Regen aus den Augen, die Erinnerungen aus den Haaren und das Chaos von der Hose zu wischen, zu streichen, zu klopfen. Kontemplation.

Polizeikontrolle

Autorenleben

Vor einiger Zeit habe ich ein Buch veröffentlicht. So aufregend der gesamte Prozess, also das Schreiben bis hin zur Veröffentlichung auch war, der Widerhall in der Gemeinde der potenziellen Leser lässt sich mit einem Wort beschreiben: dürftig.
Deshalb nutzte ich vor ein paar Tagen auf dem Flughafen – ich wollte einen alten Schulfreund abholen – die unvermeidliche Wartezeit, um die Menschen mit der Kamera einzufangen. Ein Buchtrailer, in dem Menschen hektisch umherwuseln, sollte treffend die Stimmung des Protagonisten widerspiegeln und eine gute Werbung für das Buch sein. Ich hatte, vor Kreativität überquellend, auch noch einen Sonnenuntergang und mich, den Autor, in verschiedenen Aufnahmen geplant.
Also filmte ich während des Wartens betont unauffällig zweimal eine Minute lang die Massen. Drei Minuten nach den Aufnahmen, ich kam gerade zufrieden mit Eis und Cola aus einem Kiosk, hielt mir jemand einen Ausweis direkt vor die Nase. Vor mir standen drei junge Frauen in zivil: Polizei.
Sie: »Tschuldigung, Polizei. Könnten wir einmal ihren Ausweis sehen?«

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Leseprobe

3. Kapitel / 27. / Vanille

Hannes war unauffindbar. Kurz nachdem wir den Club betreten hatten, hatte ich ihn aus den Augen verloren. Vergebens hoffte ich einen Hinweis auf seinen Verbleib auf meinem Telefon zu finden und suchte ihn halbherzig auf der Tanzfläche, bevor wir den Club gegen 01:00 Uhr verliessen. Er wird, überlegte ich auf dem Weg zu den Toiletten und der letzten Möglichkeit ihn aufzuspüren, wieder zu meiner Wohnung finden oder sich den Weg unter eine fremde Decke ebnen.Beissender Gestank von Urin schlug mir ins Gesicht. Schwarzes Licht hob zerkratzte Aufkleber und Graffiti an den Wänden hervor, und hinter den geschlossenen Türen der Toilettenabteile hörte ich Schniefen, Husten und leises Gekicher.

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Innehalten?

Paris 2015

In der Nacht vom 13. auf den 14. November 2015 hatte ich das zweifelhafte Vergnügen und war wach. Ich musste arbeiten und herzte mich gerade in einer kleinen Pause durch meine Timeline auf Twitter, als die ersten Tweets von in Paris lebenden Kontakten meine Konzentration durcheinanderbrachten.
Was war los? Geiselnahme? Mehrere Bombenattentate? In Frankreich und nur wenige hundert Kilometer entfernt? Einige Klicks später verfolgte ich das Grauen live durch die Nacht über den Bildschirm meines Telefons. Fassungs- und sprachlos.

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Wir müssen reden

Hallo zusammen.

Die Veröffentlichung meiner Novelle „Vaterliebe“ liegt etliche Monate zurück und war, um ein Fazit aus dem ganzen Brimborium, das die Veröffentlichung so mit sich brachte, zu ziehen, ein Schnellschuss. In Erwartung eines raketenhaften Aufstiegs zu früh auf den Markt geworfen.
Jeder Schuss ein Treffer? Weit gefehlt. Dabei dachte ich, wenn ich mich an die sozialen Netzwerke wende und sie nutze, kommen Ruhm und Reichtum schon von alleine. Denkste! War nich so. Wobei, an dem Ruhm bin ich gar nicht so sehr interessiert. Der Reichtum aber … Ich schweife ab.

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Leseprobe

Vaterliebe – Eine Reise in die Vergangenheit

Novelle © 2014 Mel Wolfen

Ich wuchs wie ein Einzelkind bei meiner Mutter auf. Meine neun Jahre ältere Schwester verließ uns, als ich zwei Jahre alt war, und zog zu ihren Großeltern. Meine Jugend war durchzogen von Episoden, in denen Männer kamen, sich zu mir und meiner Mutter gesellten und früher oder später wieder gingen. Ein paar Kandidaten hätten einer Vaterrolle gerecht werden können, der Großteil war aus den verschiedensten Gründen untauglich. Einer von ihnen, ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit Vollbart, der seine Halbglatze mit übergekämmten Haaren zu kaschieren versuchte, schaffte es ein paar Jahre bei uns zu verweilen. Am Anfang der Beziehung hatte ich den Eindruck, er wäre der Kandidat, der meiner Mutter ein Ehemann und mir ein Vater sein konnte. Ich nannte ihn Vater, aber mit den Jahren stellte sich heraus, dass er ein jähzorniger Choleriker war, der dem Alkohol nicht abgeneigt war und den Namen »Vater« nicht verdiente. Er war zunächst ein stiller Säufer, der, wenn er einen ausreichenden Pegel intus hatte, sich zurückzog und still war. Das muss der Grund gewesen sein, warum meine Mutter ihm eine Chance einräumte und er viele Jahre bei uns blieb. Er störte sie nicht und es funktionierte. Gegenüber meiner Mutter mimte er den Familienvater, der seine Hand liebend über den Stiefsohn hielt.