Tagtraum

Bedürfnisse

Nichts ist diffiziler als das eigene Befinden. Diese These stelle ich hiermit auf und begründe sie mit einem Zitat von dem Schriftsteller Henry Miller, das mich seit vielen Jahren begleitet:
»Ja, ich bin so verrückt zu glauben, dass der Mensch, der die wenigsten Bedürfnisse hat, der glücklichste ist.«
Das Bedürfnis nach Bedürfnislosigkeit sollte das einzige Bedürfnis sein, dass das Dasein beeinflusst. Ist es natürlich nicht. Bewegung und Fortpflanzung gehören zum Leben eines Menschen genauso mit dazu wie Essen, Trinken, Schlafen und eine regelmäßige Blasen- und Darmentleerung. Alles andere möchte ich hiermit in Frage stellen und bekenne gleichzeitig, wie schwierig es ist die unnötigen Versuchungen, die tagtäglich die Netzhaut jedes Menschen der westlichen Zivilisation malträtieren, zu ignorieren.

Keine Gefahr in Sicht

In der Hoffnung auf eine Antwort einfach mal die Augen schließen und sehen, was es dann zu sehen gibt. Ich habe das heute Morgen auf dem Weg nach Hause versucht. Mit 80 km/h auf der Landstraße. Zugegeben, keine besonders gute Idee, ganz besonders dann nicht, wenn die Straße keine endlos im Horizont verschwindende Grade ist. In diesem kurzen Tagtraum, in dem ich blind meinem vorzeitigen Tod in die Arme fuhr, sah ich wider meiner Erwartung eine ganze Menge. Trent Reznor trötete gerade sein geniales »Hurt«, durchdrang meinen Tinitus und ich fand mich in einem Moment wieder, in dem eine blond gefärbte Osteuropäerin auf mich zu kam. Sie schlenderte langsam an einem Kiosk vorbei, an dem eine Schlange aus verschiedensten Nationalitäten brav wartete. ›Der nächste bitte.‹ Die Architektur der Halle, in der wir uns befanden, nebst der Schienen neben dem Bahngleis liessen mich darauf schließen, dass wir uns in einem Bahnhof befanden. Sie hatte einen Strauß Blumen in der linken Hand. Die rechte hob sie zum Gruß und meinte mich.

Bevor ich darüber nachdenken konnte, warum gerade eine osteuropäische Blondine auf mich zu kam und kein blonder Skandinavier, war der Moment wieder vorbei und meine Augen erschrocken auf die leere Straße gerichtet. Keine Gefahr in Sicht und ich dem Tod von der Schippe gesprungen. Müde durch die trübe Suppe meiner Gedanken schiffend, trat ich alsbald fest auf die Bremse, da ein Marder in diesem Moment die Straße überqueren wollte. Die Augen zu schließen scheint für mich nicht das Mittel der Wahl zu sein, um Bedürfnissen aus dem Weg zu gehen.

Die Überlegung ist für mich schlüssig, nur der Versuch heute Morgen meine Bedürfnisse auszublenden, vielleicht ein wenig waghalsig. Dabei hat der Mensch ohne der Vielzahl an Bedürfnissen gerecht zu werden, die, jede einzelne für sich, die Existenz unaufhaltsam und stetig voranschreitend verändern, am ehesten die Möglichkeit sich seiner selbst bewusst zu werden, kann Widrigkeiten und Defizite aus dem Weg räumen, findet darin letztendlich Ruhe und Zufriedenheit und kann daraus folgernd die Frage nach dem persönlichen Befinden tatsächlich beantworten.

 Bitte nicht nachmachen

Ob Henry Miller genau das damit erreichen wollte, weiß ich natürlich nicht. Es spielt auch keine Rolle.
Ach so: das mit dem Auto, der Straße und den Augen – bitte nicht nachmachen.