Leseprobe

3. Kapitel / 27. / Vanille

Hannes war unauffindbar. Kurz nachdem wir den Club betreten hatten, hatte ich ihn aus den Augen verloren. Vergebens hoffte ich einen Hinweis auf seinen Verbleib auf meinem Telefon zu finden und suchte ihn halbherzig auf der Tanzfläche, bevor wir den Club gegen 01:00 Uhr verliessen. Er wird, überlegte ich auf dem Weg zu den Toiletten und der letzten Möglichkeit ihn aufzuspüren, wieder zu meiner Wohnung finden oder sich den Weg unter eine fremde Decke ebnen.Beissender Gestank von Urin schlug mir ins Gesicht. Schwarzes Licht hob zerkratzte Aufkleber und Graffiti an den Wänden hervor, und hinter den geschlossenen Türen der Toilettenabteile hörte ich Schniefen, Husten und leises Gekicher.

›Fick dich‹, dachte ich verlegen

»Hannes?«, fragte ich laut in die trübe Dunkelheit. Kurz trat Stille ein, begleitet von den Bässen der Musik. Keine Antwort. Ein Gürtel wurde klappernd geöffnet, wenig später folgte das leise Stöhnen einer Frau.
Ob Linda mich unter ihre Decke lassen würde, fragte ich mich beim Hinausgehen und verwarf den Gedanken sogleich wieder. Das zu Hilfe Eilen in einer Situation, die mich wie ein weich gekochtes Ei aussehen ließ, begrenzte ihr Begehren sicher auf ein Minimum. Ich malte mir aus, wie ich den Typen vor Lindas Augen mit einem Schlag zu Boden befördern und so meine Ehre retten würde.

»Wohin soll es gehen?« Sie wartete rauchend am Eingang auf mich. Der Türsteher würdigte mich keines Blickes.
»Zu dir oder zu mir«, antwortete ich unvermittelt. Ohne einen Versuch, den vorherigen Gedanken zu Ende denkend, wollte ich mich nicht geschlagen geben.
»Weder noch.« Amüsiert lächelte sie mich an. »Also, wohin?« Sie schob ihren Arm unter meinen.
»O. k., dann auf einen Absacker in die ›Erbse‹?« Ich sah mich ein letztes Mal um, suchte Hannes vergeblich im Dämmerlicht des Eingangs und hoffte, dass Linda meine Enttäuschung verborgen blieb. Wir verliessen den Club schweigend. Linda an meiner Seite, schickte ich Hannes eine SMS mit der Mitteilung, dass wir in einer Kneipe seien, und vergaß ihn sogleich unter der Berührung ihrer Hand, die sie auf mein Handgelenk legte. Plötzliches Herzklopfen ließ meine Atmung vibrieren, und ich simulierte erschrocken einen Hustenanfall in der Hoffnung, dass Linda von dem Feuer, das ihre Berührung in mir entfachte, nichts mitbekommen würde.
»Hey, alles klar?« Linda blieb stehen und hinderte mich daran weiterzugehen. »Ich tu nichts.« Mit gespielter Besorgnis streichelte sie mein Handgelenk. Der geübten Beobachterin blieb nichts verborgen.

Wunderschöne Nachtfalter

›Fick dich‹, dachte ich verlegen und war dankbar für die Dunkelheit, die die Röte, die dem Alkohol im Blut zum Trotz mein Gesicht überschwemmte, verdeckte. »Alles gut«, wiegelte ich ab. »Das war jetzt ein wenig unvorbereitet.« Wozu verstecken, wenn der Frau, deren Lippen im Schein des Mondes verführerisch glänzten, sowieso nichts entging. Ich nahm meinen Mut zusammen und startete einen neuen Versuch. »Dem Gedanken ›zu dir oder zu mir‹ hast du gerade äusserst viel Brisanz verliehen.« Wir standen uns dicht gegenüber. Mit der freien Hand zog ich sie sanft zu mir und küsste sie.
Linda erwiderte den Kuss, bevor sie langsam ihre Lippen von meinen löste. »Step by step, Mel.« Flüsternd behielt sie das Gesicht ganz nah an meinem und streichelte mich mit ihrer Nasenspitze. Ihr Kuss enthielt eine feine Spur Vanille, der, getragen von dem Duft ihres Parfums, jede einzelne Knospe meiner Geruchsnerven besetzte, die Ereignisse meines vorherigen Lebens in Bedeutungslosigkeit zergehen ließ und den Wunsch weckte, schnell ein paar Schritte zu überspringen. Ohne einen weiteren Kommentar legte sie entwaffnend behutsam eine Hand auf meine Brust und schob mich von sich.

Mein Name ist Mel Wolfen. Die Frau an meiner Seite, deren Name nicht Felicia ist, dieser wunderschöne Nachtfalter, der in dem Licht der Strassenlaternen langsam mit seinen Flügeln mein Herz streichelt, hat mich in seinen Bann gezogen.

© 2016 Mel Wolfen