Vaterliebe – Eine Reise in die Vergangenheit
Novelle © 2014 Mel Wolfen
Ich wuchs wie ein Einzelkind bei meiner Mutter auf. Meine neun Jahre ältere Schwester verließ uns, als ich zwei Jahre alt war, und zog zu ihren Großeltern. Meine Jugend war durchzogen von Episoden, in denen Männer kamen, sich zu mir und meiner Mutter gesellten und früher oder später wieder gingen. Ein paar Kandidaten hätten einer Vaterrolle gerecht werden können, der Großteil war aus den verschiedensten Gründen untauglich. Einer von ihnen, ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit Vollbart, der seine Halbglatze mit übergekämmten Haaren zu kaschieren versuchte, schaffte es ein paar Jahre bei uns zu verweilen. Am Anfang der Beziehung hatte ich den Eindruck, er wäre der Kandidat, der meiner Mutter ein Ehemann und mir ein Vater sein konnte. Ich nannte ihn Vater, aber mit den Jahren stellte sich heraus, dass er ein jähzorniger Choleriker war, der dem Alkohol nicht abgeneigt war und den Namen »Vater« nicht verdiente. Er war zunächst ein stiller Säufer, der, wenn er einen ausreichenden Pegel intus hatte, sich zurückzog und still war. Das muss der Grund gewesen sein, warum meine Mutter ihm eine Chance einräumte und er viele Jahre bei uns blieb. Er störte sie nicht und es funktionierte. Gegenüber meiner Mutter mimte er den Familienvater, der seine Hand liebend über den Stiefsohn hielt.
Doch hinter dieser Fassade, vor meiner Mutter verborgen, zeigte er, was er von mir hielt. Wenn ich mit einer schlechten Note, einem miserablen Zeugnis oder mit einer Vorladung, in der man meine Eltern zum Gespräch in die Schule bat, nach Hause kam, ich Tränen in den Augen hatte, da ich lautes Geschrei befürchtete, geschah es oft, dass es keine der erwarteten Reaktionen gab. War meine Mutter nicht zu Hause, übernahm er die Aufsicht über das Bestrafungsprozedere. Ich erfuhr jedoch keine Schreie, sondern fand eine große Auswahl aus Süßigkeiten vor. Wenn ich ihn mit großen, fragenden Augen ansah und wissen wollte, warum er mich reich beschenkte, antwortete er, er wolle mich motivieren es beim nächsten Mal besser zu machen.
Die ersten Jahre fiel ich darauf herein und stürzte mich gierig auf den ansonsten streng reglementierten Süßkram. Mit der Zeit aber wurde ich misstrauisch. Wenn ich mit einer gut benoteten Klausur, einem sportlichen Erfolg oder einem guten Zeugnis nach Hause kam, blieb das Lob, die Freude über meinen Erfolg aus. Ich erntete entweder keine Reaktion oder einen leeren Blick. Ich verstand dieses Verhalten nicht, fühlte die Niedergeschlagenheit über das Ausbleiben von freudiger Reaktion und erinnere mich gut an mein Unverständnis. Aus welchem Grund fruchteten meine Bemühungen nicht, weshalb konnte ich die Freude über meine Erfolge nicht mit meiner Familie teilen?
Meine Fehler waren seine Erfolge und bestätigten ihn in der Annahme, dass ich zu nichts tauge. Ein paar Jahre trieb er dieses grausame Spiel mit mir, bis ich zu alt war. Ich verstand sein Vorgehen nicht, war aber schlau genug um zu verstehen, dass sein Verhalten nicht richtig war. Ich ließ die Belohnungen stehen, er verstand nichtssagend meine Reaktion und unterließ die Manipulation. In dieser Zeit fing die Beziehung zwischen ihm und meiner Mutter an auseinanderzubrechen. Ich begann vermehrt Fragen über meinen richtigen Vater zu stellen und er glaubte zu spüren, wie ich mich zwischen ihn und meine Mutter stellte.
Wir hatten auch gute Momente. Er brachte mir Schwimmen und Fahrradfahren bei. Ich war neugierig und gespannt auf diese neuen, mein Leben bereichernden Fähigkeiten und er schaffte es, dass ich mich im Wasser bewegen und auf dem Fahrrad fortbewegen konnte. Ich suchte während dieser Lehrstunden in seinen Augen nach Orientierung und fand anhaltend ausweichende Blicke. Teilnahmslos beriet er mich, und die Übungsstunden waren schnell vorüber, seine Pflicht gegenüber der Mutter erfüllt.
»Ich habe dir gezeigt, wie es geht. Den Rest findest du ohne mich raus.« Mit diesen oder ähnlich knappen Worten ließ er mich im Wasser oder auf dem Fahrrad zurück, drehte sich um, ging fort und demonstrierte sein Desinteresse.
Neben meinen schlechten Erfahrungen geriet auch meine Mutter zunehmend in Schwierigkeiten mit dem unfreiwilligen männlichen Oberhaupt der Familie. Die Harmonie, die die ersten Jahre der Beziehung meiner »Eltern« dominiert hatte, war verpufft. Ich war 13 oder 14 Jahre alt, und in der Familie herrschte eine Stimmung aus Wut und Aggression. Eines Abends, ich saß in der Küche und aß Abendbrot, hörte ich, wie sich die beiden in der Stube anbrüllten. Er hatte getrunken und meine Mutter geraucht. Er hasste Letzteres, war ein überzeugter Nichtraucher. Die Situation geriet außer Kontrolle, als sich meine Mutter weigerte die erwähnte Zigarette auszudrücken. Das wollte er nicht tolerieren und er versuchte sie ihr wegzunehmen. Meine Mutter ließ das nicht zu, wehrte seine Versuche ab und er wurde handgreiflich. Die beiden fingen ein Handgemenge an, bei dem er versuchte ihr die Zigarette aus der Hand zu schlagen. Sie trug Leggins, ein T-Shirt und das Fett ihres Bauches quoll unter dem T-Shirt hervor. Ihr dünnes Haar fiel schnell schweißnass in ihr Gesicht. Sie hielt seine Hände fest, ihre Fingernägel vergruben sich in das Baumwollhemd, das seine Arme bedeckte. Gebückt führten beide einen wilden, raufenden Kampf auf, der vor der Wohnungstür endete. Seine Jeanshose war ihm über das Gesäß gerutscht. Ich konnte sie von der Küche aus kämpfen sehen und hatte große Angst. Die Asche der Zigarette fiel auf den Boden und Glut wirbelte durch die Luft. Würde er ihr etwas antun? Ich hatte nur sie! Dieser Gedanke ging mir panisch durch den Kopf, als ich mir unser schärfstes Messer schnappte und auf ihn losging, ihn anschrie. Er bemerkte mich im ersten Moment nicht, sah mich dann mit wirren, glasigen Augen an und schlug mir das Messer aus der Hand.
»Was soll das?«, fauchte mich meine Mutter atemlos und vorwurfsvoll an. »Willst du jemanden verletzen?«
Er ließ von ihr ab, zog die Hose hoch, sah mich mit einem höhnischen Gesichtsausdruck an, ging in die Stube und trank. Meine Mutter schubste mich beiseite um das Messer aufzuheben. Ich wollte sie in den Arm nehmen, ihr sagen, dass ich sie beschützen wollte, aber das ließ sie nicht zu. Sie hob das Messer auf, ging in die Küche, rauchte ihre Zigarette und ließ mich im Flur zurück. Verwirrt schnappte ich mir meine Jacke und Schuhe, lief weinend auf die Straße und blieb erst bei einem Supermarkt im angrenzenden Stadtteil wieder stehen. Es war Abend, die Straßen waren leer und die Geschäfte geschlossen. Niemand interessierte sich für mich und ich schlich mich in das Warenlager des Marktes, legte mich auf die dort verstauten Mehlsäcke und weinte.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag. Eine Spinne krabbelte über mein Gesicht und die Sterne funkelten am Himmel. Ich träumte von meinem Vater, meinem richtigen Vater. Ich versuchte mich an ihn zu erinnern, obwohl wir uns nie begegnet waren. Ich erinnerte mich an ein altes Foto. Auf diesem Foto hält er mich, ich bin ein Jahr alt, auf dem Arm und lächelt in die Kamera. Wir stehen neben einem Weihnachtsbaum. Ich versuchte mich an seinen Gesichtsausdruck zu erinnern. Es musste ein Lächeln sein. Es konnte nur ein Lächeln sein. Er war mein Vater, es war Weihnachten und die Stube schön geschmückt. Ein Werk meiner Mutter, die es sich in keinem Jahr, in dem ich Weihnachten zu Hause verbrachte, nehmen ließ, die Wohnung bis ins kleinste Detail auszuschmücken, um eine perfekte Weihnachtsstimmung zu erzeugen. Und sie machte dies gut. Ich erinnere mich gerne an die Wärme, das Rascheln und Knistern, das in der Luft lag. Ich erinnere mich nicht daran, wer das Foto geschossen hat. Vermutlich meine Mutter. Ich habe sie nicht gefragt. Wo meine Schwester gewesen ist, kann ich nicht sagen. Es ist ein schönes Bild, und wenn ich heute daran denke, habe ich Sehnsucht. Sehnsucht nach etwas, das ich bis heute nicht erfahren habe.
Als ich in der Nacht nach Hause kam, brannte in der Wohnung Licht. Sie warteten auf mich. Ich musste klingeln, da ich keinen Schlüssel bei mir trug, und nachdem meine Mutter mir die Tür geöffnet hatte, vermutete ich das Schlimmste. Ich war auf eine Tracht Prügel eingestellt, da ich mich in der Nacht unerlaubt rumgetrieben hatte. Schon in dem Warenlager stellte ich mich darauf ein und sah mit geschlossenen Augen eine weitere Holzkelle an meinem Körper zerbrechen. Entgegen meinen Befürchtungen zog sie mich wortlos in die Wohnung und schob mich in mein Zimmer.
»Willst du etwas essen?«, fragte sie mich leise.
Ich schüttelte den Kopf.
»Geht es dir gut?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Wo bist du gewesen?«
Ich zuckte mit den Schultern und hatte Tränen in den Augen.
»Geh schlafen.«
»Wo ist mein richtiger Vater?«
Sie schloss die Tür und ließ mich in der Dunkelheit des Zimmers und der Nacht zurück.
Die Beziehung zu dem bärtigen Jähzorn ging voraussehbar in die Brüche und es wurde mir, dem Sohn, die Schuld an der gescheiterten Beziehung zugeschrieben. Trotz dieser schlechten Erfahrungen war das Interesse an der Person meines leiblichen Vaters ungebrochen.
»Weshalb habe ich keinen Vater?«, muss ich häufig gefragt haben.
»Du hast einen Vater. Jedes Kind hat einen Vater«, antwortete sie ausweichend.
»Weshalb kenne ich ihn nicht? Wo ist er?« Mit der unbedarften Neugier eines Kindes fragte ich weiter.
»Dafür bist du nicht alt genug.«
Ich ging durchs Leben und stellte mir vor, was es heißen könnte einen Vater in seinem Leben zu haben. Die Lebensgefährten meiner Mutter, die trotz länger verweilender Aspiranten in meiner Jugend gewöhnlich wechselten, gaben mir eine ungefähre Vorstellung. Sie tranken, sie standen auf gewalttätigen Sex, sie trieben sich rum. Eines hatten sie alle gemeinsam: Sie sahen in mir einen Störfaktor, der ihnen im Weg stand. Bis auf eine Ausnahme. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen, aber einer der Kandidaten verspürte unerwartet Lust, eine Vater-Sohn-Beziehung aufzubauen. Er nahm mich sonntags mit zum Frühschoppen in die Kneipe, brachte mich zur Schule und holte mich ab, suchte die Nähe zu mir. Eine gesunde Nähe, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Eines Tages wollte er mir auf der Straße, ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, einen Abschiedskuss geben. Ich wollte den Kuss erwidern, genierte mich nur. Was wäre, wenn uns jemand sah? Von diesem Mann trennte meine Mutter sich nach wenigen Monaten.
»Warum ist er weg? Er war nett«, fragte ich, nachdem er nicht mehr da war.
»Das hat mit uns nicht geklappt. Er war ein Herumtreiber.«
»Was heißt Herumtreiber?«
»Das verstehst du nicht.«
»Ich würde es gerne verstehen. Ich habe ihn gemocht.« Aus mir sprach die Trauer eines Kindes, das eine Bezugsperson verloren hatte.
»Ja, ich weiß, du …«, und sie betonte das Du vorwurfsvoll, »hast ihn gemocht … Mir hat er nicht weitergeholfen.«
Dann kam die Zeit, in der ich das nötige Alter erreicht hatte, um Näheres über meinen Vater zu erfahren. Wir saßen in der kleinen Küche unserer Mietwohnung an einem Klapptisch, der zu den Mahlzeiten aufgeklappt wurde. Ich saß vor einem Teller mit Streichwurst bestrichenem Toast. Lustlos schob ich den Toast auf meinem Teller herum und sah aus dem Fenster.
»Nun iss, sonst wird das Toast pappig, und das magst du nicht.« Meine Mutter las Zeitung und steckte sich eine Zigarette an.
»Warum ist Vater nicht bei uns?«
Obwohl ich die Frage schon häufiger gestellt hatte, reagierte meine Mutter überrascht und ließ vor Schreck die Zigarette fallen. Sie sah mich an und hob die Zigarette auf.
»Was ist?« Ich wich verunsichert ihrem Blick aus. Ich war es nicht gewohnt direkten Augenkontakt zu halten. Ich fühlte mich gesehen und wollte nicht gesehen werden. Unsicher nahm ich einen Bissen.
»Eines Tages wirst du es so oder so erfahren, ob ich will oder nicht.« Sie drückte die Zigarette aus und blies die heruntergefallene Asche von der Zeitung. Nun war sie es, die aus dem Fenster sah und nachdachte. Minutenlang schwiegen wir. Ich wollte nachfragen, ob ich eine Antwort bekäme, als sie von sich aus begann.
»Dein Vater ist kein guter Mensch. Er hat mir und anderen Menschen viel Leid zugefügt«, sagte sie nachdenklich.
»Was heißt das?«, fragte ich, nachdem sie erneut aus dem Fenster sah.
»Dein Vater war und ist ein Alkoholiker. Du musst verstehen …«, sie sah mich mit einem Verständnis suchenden Blick an, »er war im Grunde ein guter Mensch, aber der Alkohol … Wenn er getrunken hatte, hat er mich verprügelt. Auf die schlimmste Art und Weise.«
Ich brauchte einen Moment, bis ich diese widersprüchliche Aussage verdaut hatte. Ich fragte, was sie damit meine. Wieso war mein Vater ein guter Mensch? Das Schlechte hatte ich verstanden.
»Er war ein toller Mann, von dem ich viel gelernt habe. Der mir viel gezeigt hat und zu dem ich aufgeschaut habe. Das war der Grund, warum ich mich in ihn verliebte und weshalb ich ihn geheiratet habe. Ihr beide habt …«, und sie sah mich verträumt an, »vieles gemeinsam. Aber wenn er trank, war er unberechenbar. Er hat mich grundlos durch die Wohnung geprügelt und getreten. Ich war oft im Krankenhaus.«
Das musste ich erst verdauen. Mein Vater, ein gewalttätiger Mensch.
»Und was haben wir gemeinsam?«, fragte ich sie. »Bin ich wie er ein gewalttätiger Mensch?«
»Nein, nein, ich nehme es zumindest nicht an.« Sie blickte mich an, als würde sie die Wurzeln des Bösen in mir suchen. »Du bist genauso schlau und gewandt wie er. Ihr habt Charakterzüge, die sich ähneln.«
»Welche meinst du?«
»Das kann ich dir nicht sagen.« Sie wedelte abwehrend mit der Hand. »Wie ihr die Welt seht. Wie ihr an die Dinge herangeht.«
»Und das wäre wie?« Was wollte sie mir sagen? Ich versuchte die spärlichen Informationen zu sortieren.
»Das kann ich dir nicht sagen. Das ist schwer zu beschreiben. Wenn du ihn kennenlernst, wirst du wissen, was ich meine.«
Daraus sollte ich schlau werden? Was versuchte mir meine Mutter zu sagen? Dass ich ein prügelnder Ehemann bin, der einen aufgeschlossenen Blick auf die Welt hat?» Was hat er gemacht, als er dich verprügelte?«
»Das kann und will ich dir nicht erzählen! Ich erinnere mich nicht mehr, vieles habe ich vergessen«, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu. »Ich kann nicht verstehen, warum du das wissen willst. Unter Umständen erzählt er es dir eines Tages. Und warum er es getan hat.«
»Dich verprügelt?«
»Ja.«
»Und wegen der Gewalt habt ihr euch getrennt?«
Meine Mutter wurde unsicher.
»Ja, unter anderem«, nuschelte sie.
»Weswegen noch?« Ich wollte es wissen. War die Gewalt der Grund, warum ich auf einen Vater verzichten musste, oder gab es einen anderen, schwerwiegenderen? Sie sah mich gedankenverloren an.
»Das erfährst du, wenn du ihn kennenlernst. Oder deine Schwester erzählt es dir. Sie betrifft es auch.«
»Was betrifft sie? Was kann sie mir erzählen, was du mir nicht erzählen kannst?«
Das Gespräch war beendet. Ich vermutete alles und nichts, konnte mir keinen Reim auf die Andeutungen unserer Mutter machen. Meine Schwester hatte uns früh verlassen. Sie zog es vor bei ihren Großeltern zu leben, und unsere Mutter ließ sie ziehen. Ich bewunderte sie, da sie ein Leben ohne elterliche Strenge und Konsequenzen leben durfte. Diese Entfernung, sie bei ihren Großeltern, ich bei unserer Mutter, ließ uns keine enge geschwisterliche Beziehung aufbauen.
Ich kann mich erinnern, dass ich sehr aufgeregt war, als meine Schwester das Geheimnis lüftete. Es war an einem Nachmittag eines Werktages. Meine damalige Freundin und ich besuchten nach der Schule meine Schwester und ihren Mann. Sie hatte uns zum Essen eingeladen. Wir unterhielten uns. Wie wir auf das Thema zu sprechen kamen, weiß ich nicht mehr. Im Laufe des Nachmittages, wir spielten eine Partie Scrabble, stellte ich die Frage, ob sie nicht wisse, weshalb ich meinen Vater nicht kenne. Und meine Schwester fing unvermittelt an zu reden. Es schien, als habe sie die Frage erwartet und wäre darauf vorbereitet. Ihr Gesicht war verschlossen und sie sah auf den Boden. Aufkommende Emotionen sollten ihrem Bericht nicht unnötig Farbe verleihen.
Von dem Moment an, in dem meine Schwester anfing zu erzählen, schoss mir die Röte ins Gesicht. Nun würde ich das Geheimnis meiner Familie erfahren. Meine damalige Freundin wusste um die Fragen und Sehnsüchte, die mich beschäftigten, und wollte meine Hand nehmen, mich moralisch unterstützen. Ich lehnte diese Geste unwirsch ab und fürchtete sogleich sie vor den Kopf gestoßen zu haben, aber sie reagierte verständnisvoll und ließ von mir ab.
»Du musst ein Jahr alt gewesen sein. Lass mich überlegen«, begann meine Schwester. »Ja, du warst ein Jahr alt, als meine Mutter uns erwischte.«
»Erwischte?«, fragte ich verwundert. »Wobei?« Ich hatte vor Aufregung einen hochroten Kopf und mein Herz raste. Endlich würde ich erfahren, weswegen ich meinen Vater nicht kannte.
»Ja, erwischte. Ich war acht Jahre alt und dein Vater missbrauchte mich bereits längere Zeit.«
Darauf folgte Stille. Die Luft schien im Raum zu stehen. Unten auf der Straße spielten Kinder und es fuhren Autos vorbei. Niemand wagte ein Wort zu sagen. Mein Schwager blickte mich an und wollte etwas Unnützes sagen. Meine Schwester hielt ihn davon ab.
»Dein Vater und ich lagen im Bett, als sie hereinkam. Sie starrte uns kurz an und sagte leise, ich solle mich anziehen und mitkommen. Sie ließ mich die ganze Zeit nicht aus den Augen. Nachdem ich mich angezogen hatte, nahm sie mich an die Hand, wir holten dich und verließen die Wohnung. Sie hat die ganze Zeit kein Wort mit deinem Vater geredet. Er versuchte die Situation zu erklären, aber sie beachtete ihn nicht.«
In mir explodierten die Gefühle. Scham, Neugier, Wut. Mein Vater ein Verbrecher? Ich wusste aus den Erzählungen meiner Mutter, dass er, wenn er betrunken war, gewalttätig gewesen war. Ich schämte mich, da ich mit meinem Vater viel Ähnlichkeit haben sollte. Das, was meine Schwester erzählte, war eine andere Sache. Ich war verwirrt.
»Und wo sind wir hingegangen?«, fragte ich mit brüchiger Stimme. Alles um mich herum schien sich in Luft aufzulösen.
»Wir sind zu Oma gefahren. Von ihr aus hat Mutter die Polizei informiert und er wurde am gleichen Tag verhaftet.«
»Verhaftet?«, fragte ich leise. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen. Ich schluckte sie herunter. Eine der vielen dummen, verqueren, ungesunden Angewohnheiten, die mir meine Mutter in jungen Jahren beigebracht hatte. Viele konnte ich ablegen, diese ist mir wie ein Fluch geblieben.
»So richtig kann ich mich nicht erinnern«, entgegnete meine Schwester unwirsch. »Ich war jung.«
Jetzt merkte ich, dass sie das Thema nicht so kalt ließ, wie sie es mir weismachen wollte. Es war merkwürdig. Ich kam mir albern vor. Weshalb berührte mich das? Mich ging das alles nichts an. Oder doch? Er war mein Vater, aber ich kannte ihn nicht. Er war ein Fremder für mich und würde es bleiben. Ich verstand nicht. Und hatte das dringende Bedürfnis zu rauchen.
Wir gingen alle auf den Balkon und rauchten in der untergehenden Sonne stumm eine Zigarette. Es herrschte eine beklemmende Stimmung.
»Und, was hast du gemacht?«, fragte ich meine Schwester mit Mühe meine Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Wie, was habe ich gemacht?«, erwiderte sie irritiert und lachte unsicher.
»Na ja«, zuckte ich mit den Schultern. Ich wusste nicht, wie ich weiter fragen sollte. Ich wollte wissen, wie es ihr ergangen war. Ich fühlte mich klein, einsam und hatte alle Mühe die Situation nicht durch Tränen aus dem Ruder laufen zu lassen.
»Ich weiß nicht mehr, ob es an demselben Tag oder einen Tag später war. Ich erinnere mich, dass ein Professor zu uns kam. Er wurde extra hergeflogen um sich mit mir zu unterhalten. Er war zu der Zeit der Experte für Situationen wie diese, und ich habe mich sechs Monate regelmäßig mit ihm unterhalten müssen.« Meine Schwester sah gedankenverloren in den Himmel. »Hm, es scheint etwas gebracht zu haben. Ich habe diese ganze Sache gut überstanden.« Sie lächelte unsicher.
Ich wusste damals nicht, was Psychotherapie ist, und konnte mir nicht vorstellen, wie diese Gespräche aussahen. Was meinte sie mit »gut überstanden«? Wollte sie sagen, sie habe keine bleibenden Schäden davongetragen? Ich traute mich nicht sie zu fragen.
»Was hat er mit dir gemacht?«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Der Akt wurde nie vollzogen«, sagte sie in Gedanken versunken.
Geschockt sahen wir meine Schwester an. Sie stand auf, ging auf den Balkon und zündete sich mit zittrigen Händen eine Zigarette an. Sie wollte sich nicht weiter in die Untiefen ihrer Erinnerung begeben und ließ uns fassungslos am Tisch sitzend zurück. Das Thema kam zwischen uns nicht wieder zur Sprache.
Wo war ich, als unsere Mutter die beiden erwischte? Viele Jahre später glaubte ich mich an die Situation erinnern zu können. Meine Mutter, wir unterhielten uns darüber, meinte, das könne nicht sein. Ich sei zu klein gewesen. Wie kann ein einjähriges Kind etwas detailliert im Gedächtnis bewahren? Meine Schwester, ich fragte sie, antwortete, sie wisse nicht mehr viel aus dieser Zeit.
Ich erinnere mich daran, dass die Wohnung dunkel gewesen ist. Ich muss in meinem Kinderzimmer gewesen sein. Ich hörte, wie auf dem Flur jemand hektisch umherlief, und ging neugierig hinaus. In diesem Alter trug ich ein Tuch bei mir, das ich mir an die Nase hielt um daran zu riechen. Mit diesem Tuch, es war bedeutend größer als ich, im Schlepptau stolperte ich mit dem Daumen im Mund vor die Tür meines Zimmers und sah, dass die Tür zu dem Schlafzimmer meiner Eltern einen Spalt weit offen stand. Durch den Spalt sah ich meine Mutter vor dem Bett meiner Eltern stehen. Ich konnte nicht auf das Bett sehen, dafür war ich zu klein, aber ich konnte erkennen, dass sich auf dem Bett eine Gestalt eilig bemühte ihre Kleider zu greifen. Es war mein Vater. Ich ging näher und sah meine Schwester reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegen. Meine Mutter reagierte sofort, als sie mich neben sich wahrnahm. Sie schob mich schnell und energisch aus dem Zimmer und ich hörte, wie sie meine Schwester leise aufforderte sich anzuziehen.
Damit endet meine Erinnerung an diese grauenhafte Entdeckung. Wenn ich daran zurückdenke, und das passiert von Zeit zu Zeit, muss ich an einen Hummer denken, der im Flur unserer Wohnung an der Wand hing. Mein Vater ist eine Zeitlang zur See gefahren und hat ihn als Mitbringsel von einer seiner Fahrten mitgebracht. Ich hatte große Angst vor diesem toten, präparierten und mir mächtig wirkendenden Objekt väterlicher Vergangenheit. Wenn ich an dem Hummer vorbeiging, blickte ich angsterfüllt zu ihm auf und lief schnell an ihm vorbei. In meiner Erinnerung ist es immer dunkel, wenn ich an dem Tier vorbeiging, um mich in meinem schützenden Zimmer zu verstecken.
»Warum besuchst du ihn nicht?«, fragte sie mich eines Tages.
»Ich weiß es nicht«, wich ich ihrer Frage aus. »Vielleicht will er mich nicht kennenlernen?«
»Das weißt du nicht. Ich denke, er wird Interesse haben zu erfahren, was aus seinem Sohn geworden ist.«
»Bist du dir sicher?« Das ließ mich aufhorchen. »Wie kommst du darauf?« Die Neugier auf meinen Vater war ungebrochen.
»Als du ein kleines Kind gewesen bist, hat er versucht dich zu sehen.«
»Und wieso hat er es nicht?«, fragte ich mit zusammengezogener Stirn. »Du hast es nicht gewollt, stimmt’s?«
»Ja, ich wollte es nicht. Ich versuchte meine Kinder zu schützen.«
»Wie hat er es versucht? Ich meine, stand er vor der Tür?« Die Sehnsucht nach den ganzen verpassten Umarmungen, Geburtstagen und Gesprächen flammte trotz seiner Verbrechen in mir auf.
»Ja, er stand vor der Tür. Du warst klein. Ich drohte ihm die Polizei zu rufen, wenn er nicht sofort gehen würde.«
»Und er ging?«
»Ja. Er hat es ein paar weitere Male versucht. Später hat er angefangen Briefe zu schreiben und Fragen über dich gestellt.«
»Und du hast sie ihm beantwortet?«
»Am Anfang nicht. Später ja, da er nicht locker ließ. Nur auf diesem Weg konnte ich ihn von uns fernhalten. Die Fragen hörten auf und ich habe seit vielen Jahren nichts mehr von ihm gehört.«